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Wehe den Besiegten: der Existenzkampf „Europas“ im Gerangel zwischen den USA und Russland

Neue Forschungen aus den USA belegen die Korrektheit der Aussagen von „Dissidenten“ wie Noam Chomsky, dass der amerikanische Imperialismus seit 1945 aktiv während des 2. Weltkriegs geplant wurde. Stephen Wertheims Tomorrow, the World (2020) ist also wenig mehr als alter Wein in neuen Schläuchen, zeigt aber sehr wohl, dass das US-Establishment immer weniger Rücksicht auf ihr Image („soft power“, nach John Nye) legt.

Von Stephan Sander-Faes

Vorbemerkung: dies ist ein recht langer Essay zur Rolle europäischer Staaten innerhalb der US-geführten „westlichen Wertegemeinschaft“, der in den nächsten Tagen als mehrteilige Serie erscheint. Im ersten Teil geht es um die langfristigen Verbindungslinien, die den 2. Weltkrieg und die Bewertung der internationalen Forschung zu dem einzigen Gewinner des Konflikts: den Vereinigten Staaten. Zwar nicht so geplant, so passt dieser mehrteilige Beitrag dennoch sehr gut zu dem gestern erschienenen Artikel, der Fragen der Planungen der aktuellen Lage in Europa seitens Washingtons nachspürt.

Vasallen Washingtons und die selbstverschuldete Unmündigkeit Europas

Gelegentlich erscheinen auch in den selbsternannten „Leit- und Qualitätsmedien“ Beiträge, die das Prädikat „lesenswert“ verdienen. Dies trifft gewiss auf den kürzlich von Thomas Oysmüller hier besprochenen Kommentar von Oskar Lafontaine zu, der in der Berliner Zeitung unter dem Titel „Deutschland handelt im Ukraine-Krieg als Vasall der USA“ erschienen ist.

Nun ist zwar der Beitrag von Herrn Lafontaine jedenfalls zu begrüßen, etwas Neues oder Einzigartiges stellt diese Aussage jedoch keineswegs dar. Dennoch sei bemerkt, dass es mehr, nicht weniger derartige Stimmen geben sollte—wie etwa auch die folgende.

Ähnlich, wenn auch aus leicht anderer Perspektive, argumentierte nämlich jüngst auch der letzte Regierungschef der ehemaligen DDR, Egon Krenz, der—man glaubt es kaum—anlässlich des Erscheinens des ersten Bandes seiner Memoiren von Birgit Baumann für den Standard interviewt wurde.

In dem informativen Gespräch kann man lesen, dass Krenz „das Problem“ mit den „USA und [deren] Anspruch, ‚alleiniger Weltherrscher‘ sein zu wollen“ identifiziert. Entgegen den gebetsmühlenartig wiederholten Beteuerungen, dass der aktuelle Kurs gegen Russland beigehalten werden müsse—und zwar koste es, was es wolle und entgegen jeglichem möglichen Meinungsumschwung der Bevölkerung, wie etwa die deutsche Außenministerium Annalena Baerbock bei einer Veranstaltung in Prag beteuerte—meinte Krenz hierzu:

So wie europäische Politiker bei Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj waren, könnten sie auch nach Washington reisen und Präsident Joe Biden überzeugen, mit Russland auf Augenhöhe über die Vorschläge Putins zur Wahrung russischer Sicherheitsinteressen vom Dezember 2021 zu verhandeln. Das würde europäischen Interessen dienen.

Offensichtlich aber hat die europäische Politik-Elite gleich welcher Couleur oder welchen Landes kein Interesse daran, europäische oder gar nationalstaatliche Interessen zu verfolgen. Zweifelsfrei ist dies eine den USA gewiss willkommene Unterwerfungsgeste (Duldungsstarre). Dennoch führt diese Feststellung unvermeidbar zu Fragen nach den Hintergründen der EU-Integration, die ja schließlich von denselben Politik-Eliten in den letzten rund 30 Jahren verstärkt vorangetrieben wird.

Ähnlich wie Annalena Baerbock es in Prag aussprach, so gleichen einander auch die Kommentare der übrigen europäischen Poltiker(inn)en. Es sieht so aus als ob niemand (mehr) die Interessen der europäischen Völker vertreten würde; zu stark, wenn nicht unüberwindbar wirkt der Einfluss des Transatlantismus in allen seinen vielfachen Manifestationen.

EU und NATO als Herrschaftsinstrumente Washingtons und der Wall Street

Daher sei der bereits erwähnten Frage nach den Hintergründen der EU-Integration auch deren gleichsam „siamesischer Zwilling“ der North Atlantic Treaty Organization (NATO) an die Seite gestellt, um den es in diesem Essay ebenso, wenn auch impliziter gehen mag.

Doch zurück zur Europäischen Union (EU), denn diese ist ja—im Gegensatz zur 1949 begründeten NATO—keine dreißig Jahre alt. Der grundlegende Vertrag über die europäische Einigung (Treaty on European Union) wurde 1992 im niederländischen Maastricht unterzeichnet und trat nach seiner Ratifizierung am Allerheiligentag 1993 in Kraft. Mehrfach erweitert und verändert, ist der zweite essenzielle Baustein dieser Dynamiken der Vertrag von Lissabon, der nach dem zuvor gescheiterten Verfassungskonvent schließlich 2007 vereinbart wurde.

All diese Informationen sind notwendig, geht es doch um die strukturellen Kräfte, die die EU-europäische Politik sowohl in den einzelnen Mitgliedstaaten als auch als gemeinsames Ganzes massiv beeinflussen. Darüber hinaus bedeutet dies auch, dass die fortgesetzte Integration in jedem Fall als das gemeinsame Projekt der europäischen Politik-Eliten einzustufen ist.

In diesem Sinne sitzen „wir“ Europäerinnen und Europäer tatsächlich in demselben Boot. Dieses aber befindet sich in zunehmend gefährlichem Fahrwasser, wobei es einzuschätzen gilt, ob die größere Gefahr von der sklavischen Abhängigkeit von den USA oder den Aktivitäten der europäischen Politik-Eliten und deren Herablassung gegenüber den jeweils eigenen Bevölkerungen ausgeht.

In diesem Sinne sind die Aussagen von Annalena Baerbock in Prag keineswegs einzigartig, wie etwa auch ein langes Interview mit Bundeskanzler Olaf Scholz belegt, das im April 2022 in Time Magazine erschienen ist. Neben vielen anderen Dingen finden sich darin auch Aussagen wie etwa die folgende wieder:

„Wenn Sie eine gute Führungskraft sind“, so Scholz, „hören Sie den Leuten zu, aber Sie glauben niemals, dass [die Menschen] tatsächlich wollen, dass Sie alles genauso umsetzen, wie es von [den Menschen] gefordert wird.“

Dennoch ist die Ruhe des langen Nachsommers 2022 trügerisch, warnten doch die Leit- und Qualitätsmedien bereits im Juli vor einem bevorstehenden „Wutwinter“ (Der Standard), der uns aufgrund „radikaler Proteste“ (Tagesschau/ARD) aufgrund von Inflation und Energiekrise bevorstehe.

Zusätzlich zu den Unbegreiflichkeiten der Causa Wien Energie und dergleichen, sehen viel Europäer(inn)en der unmittelbaren Zukunft recht pessimistisch entgegen. Von unseren Politik-Eliten aber ist gleichzeitig nicht zu vernehmen, was eine Änderung der geostrategischen Großwetterlage erkennen lässt. Dies womöglich auch, da der „große Plan“ der USA, Russland zu „überdehnen“ und schließlich zu besiegen—den übrigens die RAND CORPORATION bereits 2019 unter dem eindeutigen Titel Extending Russia: Competing from Advantageous Ground (etwa: „Überdehnung Russlands: Wettstreit von vorteilhaftem Standpunkt aus“) veröffentlichte.

Hier aber stehen in Folge die Hintergründe und „größeren Zusammenhänge“ der aktuellen Lage Europas im Angesicht von Ukrainekrieg, Inflation und Energiekrise im Mittelpunkt.

Das Ende der europäischen Nationalstaaten

Bekanntlich hat Deutschland den 2. Weltkrieg verloren und wurde als Konsequenz von den Siegermächten zunächst okkupiert und 1948/49 in zwei Staatswesen unterteilt. Dies waren die Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die Deutsche Demokratische Republik (DDR), die beide als Satelliten ihrer jeweiligen Förderer (USA bzw. UdSSR) in einer mehr oder minder spannungsgeladenen Situation koexistierten. Als das sowjetische System in den 1980er Jahren Anzeichen des Zusammenbruchs zeitigte, waren die hauptsächlichen Konsequenzen die „Wiedervereinigung“ der beiden deutschen Staaten unter Federführung der BRD und das Ende des Warschauer Paktes.

Nebenbei bemerkt: „Wiedervereinigung“ sollte immerzu unter Anführungszeichen verwendet werden, da es keine Vereinigung auf Augenhöhe war, sondern vielmehr „der Beitritt der DDR zur BRD“ war. Wer dies nun für krude Propaganda halten möge, dem seien beispielhaft die entsprechenden Passagen der deutschsprachigen bzw. englischsprachigen Wikipedia hierzu ans Herz gelegt (meine Hervorhebungen; eine Übersicht der vielen Änderungen seit Mitte Juli 2022 finden Sie hier):

Wehe den Besiegten: der Existenzkampf „Europas“ im Gerangel zwischen den USA und Russland

Abb. 1: der aktuelle Eintrag auf Wikipedia, wie er sich heute darstellt.

Wehe den Besiegten: der Existenzkampf „Europas“ im Gerangel zwischen den USA und Russland

Abb. 2: derselbe Eintrag in der englischsprachigen Wikipedia, wie er sich im Moment darstellt.

Wehe den Besiegten: der Existenzkampf „Europas“ im Gerangel zwischen den USA und Russland

Abb. 3: derselbe Eintrag in der englischsprachigen Wikipedia, wie er sich im Juli 2022 darstellte.

Alsbald nach dem Tag der Deutschen Einheit (3. Okt. 1990) wurde der Regierungssitz von Bonn am Rhein nach Berlin verlegt; ein „neues Deutschland“ war entstanden.

Wie so oft verbleiben in derartig gerafften Darstellungen jedoch viele Zusammenhänge außen vor, die den meisten Menschen sowohl unbekannt sind als auch aufgrund der vielfach verkürzten Beiträge kaum erwähnt werden.

Die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 in Reims und am darauffolgenden 9. Mai in Berlin-Karlshorst beendete die Kampfhandlungen in Europa. Was auch immer von Deutschland übrig blieb, war auf Gedeih und Verderb den Siegermächten ausgeliefert.

Diese Daten bezeichnen nicht nur das Ende des 2. Weltkriegs, sondern markierten auch das Ende der Souveränität und Selbstbestimmung auf deutschem Boden. Zusammen haben die beiden Konflikte (1914-19, 1939-45) und ihre Folgen auch einer der Erfolgsgeschichten des bürgerlichen Zeitalters ein Ende mit Schrecken, enormem Blutvergießen und unsagbarem Leid gebracht. Und—bevor dies zu einem Aufschrei der Empörung führen mag—dies ist nicht meine Meinung, sondern auch die aktuelle Einschätzung der internationalen Forschung zur deutschen Geschichte, wie dies hier beispielhaft an den Arbeiten von Professor John C.G. Röhl (Emeritus der University of Sussex, Großbritannien; Biographie hier) ausgeführt sei.

Heute Amerika, morgen die ganze Welt

Gleich welcher Bezeichnung man für die Bonner oder Ost-Berliner Regierungen finden mag, Fakt ist, dass weder die BRD noch die DDR als „souverän“ bezeichnet werden können. Deutschland wurde 1945 von den Siegermächten okkupiert, wobei die globale Position der Vereinigten Staaten bei Kriegsende als hegemonial—und somit als einziger „Gewinner“—bezeichnet werden kann. Alle übrigen Industriestaaten lagen weitgehend in Ruinen, was wiederum die weltweite Dominanz durch die USA nicht nur als Ergebnis des 2. Weltkrieges nahelegt, sondern durch dessen bewusste Planung in Washington, D.C. auch als historisches Faktum anzusehen ist.

Wiewohl über Jahrzehnte kaum im juste milieu thematisiert, die ehemals gleich Staatsgeheimnissen behandelten Tatsachen sind mittlerweile Allgemeingut geworden. Unter dem einschlägigen Titel Tomorrow, the World (etwa: „Morgen die Welt“) bei Belknap, einem Unternehmen der Harvard University Press, erschienen, zeichnet der Historiker Stephen Wertheim die amerikanischen Nachkriegsplanungen im Detail nach.

Wertheims Buch ist eine interessante Lektüre—und sollte aufgrund seiner Inhalte auch Pflichtlektüre für Europas Politik-Elite sein, was vor allem an einer Sache liegt: die wissenschaftliche Diskussion der umfassenden Planung der weltweiten US-Hegemonie nach 1945, die Wertheim auf über 250 Seiten penibel rekonstruiert, war bis anhin ein Thema, das zwar an den Rändern des politischen Spektrums thematisiert, im internationalen Mainstream jedoch weitgehend nicht diskutiert wurde.

Offenbar aber wurde just diese Thematik in den letzten Jahren durchaus akzeptabel im juste milieu des US-amerikanischer Establishments, was denn auch durch Wertheims Alma Mater (Columbia University), die Veröffentlichung durch einen Renommierverlag (Harvard University Press) und dessen aktuelle Tätigkeit als „Senior Fellow“ im „American Statecraft Program“ des „Carnegie Endowments for International Peace“ unterstrichen wird.

Wertheims Untersuchungen sind allerdings nichts Neues, belegen doch die Ergebnisse von Tomorrow, the World, dass die seit Jahrzehnten von (ehemals) weit links stehenden „Dissidenten“ wie Noam Chomsky kritisierten Ausrichtung der US-Politik.

Sowohl Chomskys Buch Year 501: The Conquest Continues (etwa: „501 Jahre fortgesetzter Eroberungen“) als auch ein online verfügbarer Vortrag mit demselben Titel belegen dies eindeutig.

In der gedruckten Ausgabe von Year 501 (Kap. 3, Abschnitt 2), der den Titel „Logical Illogicality“ (etwa: „logische Unlogik“) trägt, zeigen eindrücklich, um wie viel (selbst-) sicherer das US-Establishment—die Machtelite, um mit C. Wright Mills zu sprechen—in den letzten dreißig Jahren geworden ist:

In einer wichtigen Studie vom Juli 1945, die US-Kriegsminister Stimson dem Außenministerium übermittelte, versuchten die militärischen Planungsstäbe, die Absicht der USA, die Kontrolle über die Welt zu übernehmen und Russland mit militärischer Gewalt zu umzingeln, zufriedenstellend zu beschönigen, während sie dem Gegner jegliche Rechte jenseits seiner eigenen Grenzen verweigerten.

„Die Behauptung, dass es notwendig sei, eine einseitige militärische Kontrolle der USA oder Großbritanniens über Panama oder Gibraltar aufrechtzuerhalten und Russland eine ähnliche Kontrolle über die Dardanellen zu verweigern, könnte als unlogisch kritisiert werden“,

befürchteten sie, zumal die Dardanellen den einzigen Zugang Russlands zu ganzjährig eisfreien Gewässern darstellten und in der Tat fest unter einseitiger amerikanisch-britischer Kontrolle gehalten werden sollten. Doch die Kritik erscheine nur vordergründig plausibel, schlussfolgerten die Planer: Der US-Entwurf ist „eine logische Unlogik“ [a logical illogicality]. „Beim besten Willen“ könne man den USA und Großbritannien keine „expansionistischen oder aggressiven Ambitionen“ unterstellen. Russland hingegen

„ist untrennbar, fast mystisch, mit der Ideologie des Kommunismus verbunden, die zumindest oberflächlich mit einer steigenden Flut in der ganzen Welt in Verbindung gebracht werden kann, in der der einfache Mann nach höheren und weiteren Horizonten strebt. Russland wäre wohl sehr versucht, seine Stärke mit seiner Ideologie zu verbinden, um seinen weltweiten Einfluss auszuweiten. Seine Handlungen in den letzten Jahren geben uns keine sichere Grundlage für die Annahme, dass es nicht mit diesem Gedanken geliebäugelt hat.“

Kurzum, die Russen müssen beweisen, dass sie nicht die Absicht haben, sich mit den aufgewiegelten Massen zu verbünden, die „nach höheren und weiteren Horizonten streben“, da ja „die Armen seit jeher die Besitztümer der Reichen plündern wollen“ ([US-Außenminister] Dulles). Solange [die Russen diesen Absichten] nicht überzeugend abschwören, ist es nur logisch, dass verantwortungsbewusste Männer, die nicht mit kriminellen Elementen verkehren, die auf Plünderung aus sind und die nicht mit so subversiven Gedanken wie höheren Bestrebungen [der Massen] liebäugeln, ihre einseitige Kontrolle über die Welt ausüben. Russland muss beweisen, dass es keine potenzielle Bedrohung für „das Überleben der kapitalistischen Ordnung“ (Gaddis) darstellt. [meine Übertragung aus dem Englischen]

In anderen Worten: Wertheims Forschungsergebnisse sind zwar nichts grundlegend Neues, belegen aber deutlich, wie sehr sich die Einstellung des US-Establishments zu Aspekten des real existierenden amerikanischen Imperialismus gewandelt haben. Hierbei geht es nicht darum, Wertheims jahrelange Arbeit zu schmälern, wiewohl aufgrund der Auslassung von Chomsky und dessen Werk ein durchaus schaler Nachgeschmack bleibt.

Stephan Sander-Faes ist außerordentlicher Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bergen, Norwegen.

Bild: Kriegerischer Imperialismus
Autor: unbekannt
Quelle: publicdomainvectors.org via Public domain
Lizenz: public domain
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