Mit dem strikten Engagement pro Ukraine und gegen jede diplomatische Lösung, ist das Friedenprojekt EU an ihr Ende gelangt. Der Ukraine-Krieg ist der Schlusspunkt dieser Idee. Die Nachkriegszeit endete nicht 1989/90 – sie endet erst jetzt.
Ein Kommentar von Roberto J. De Lapuente
Was jetzt geschieht, könnte man ganz einfach so einordnen: Eine Europäische Union, die seit Jahren in Auflösungserscheinungen untergeht, hat in der Ukraine – und damit gegen Russland – eine Möglichkeit erblickt, sich neu zu vereinen. Es ist die letzte Ausflucht zur Rettung des Projektes. Die ultimative Chance. Durch einen Feind von Außen scheint es eine Perspektive zu geben, den Abschwung der EU aufzuhalten, vielleicht sogar in eine Trendumkehr zu steuern.
Solche Manöver kennt man ja. Wenn man in einer tiefen inneren Krise steckt, für die es keine Lösungen zu geben scheint, braucht man etwas zur Ablenkung: Ein Auslandsabenteuer etwa. Eine kriegerische Intervention. Mancher Staatsmann hat so seinen Untergang schon verschleppt. Dem organisierten Europa wird es nicht anders gehen: Der Krieg wird es nicht retten. Er wird eher dafür sorgen, dass die Fliehkräfte innerhalb der EU noch stärker werden.
Die Ukraine verteidigt nicht unsere Werte – wir verteidigen ihre
Wir wissen ja seit Monaten Bescheid: In der Ukraine wird nicht einfach nur ein Land verteidigt, um Städte, Straßen und Gebäude gekämpft: Viel mehr steht auf dem Spiel. Es geht nämlich um uns. Um unsere Werte. Kein Tag, an dem man uns das nicht immer und immer wieder verdeutlicht, ja einbläut. Die Ukraine: Das sind wir. In diesem osteuropäischen Land steht unsere Zukunft auf dem Spiel. Ganz konkret macht man dabei nie, was genau damit gemeint sein könnte. Nur dass es um uns geht, das vermittelt man uns bei jeder passenden – und unpassenden – Gelegenheit.
Wir, der Westen, sind dabei wie jene egozentrische Bekannte, die jeder von uns kennt. Man erzählt ihr, dass es einem momentan schlecht gehe, man gesundheitliche Probleme habe – und was tut sie? Lotst das Gespächsthema einfach auf sich und erzählt jetzt lang und breit, dass sie sich auch nicht ganz auf dem Damm fühle, diesen und jenen Doktor schon besucht habe und vielleicht mal Urlaub brauche, nur um uns dann von ihrem letzten Urlaub zu berichten. Versucht man dann erneut von sich zu erzählen, findet man keinen Tritt mehr und die Egozentrikerin hat mal wieder die Oberhand behalten.
Der Westen tritt exakt so auf. Da ist Krieg in einer Gegend Europas und er weiß nur davon zu erzählen, was das jetzt für sich bedeutet. Dabei überhöht er sich auch noch, tut so, als seien die Geschehnisse wirklich für ihn von Relevanz. Wenn es etwa um die Werte Europas oder des Westens gehe, die jetzt vermeintlich von Putin angegriffen werden, meint man damit irgendwas wie Demokratie, Freiheit, Meinungsfreiheit oder Liberalismus. Begriffe, die sich nur schwer fassen lassen. Zumal in einer historischen Konstellation wie der jetzigen, wo demokratische Werte zum Beispiel immer mehr ins Hintertreffen geraten oder Andersdenkende von den Medien dieser zu verteidigenden Demokratie ganz galant als Ratten deklariert werden. Hierzulande werden gar »Poeten« preislich ausgezeichnet, die Menschen als »Unrat« titulieren.
Ohne den Autor Zhadan verteidigen zu wollen: Der Mann kommt aus einer Kriegsgesellschaft. Die ist naturgemäß rau und brutal. Sie lässt verrohen, entmenschlicht im Angesicht des Existenzkampfes. Das kann man jemanden in so einer Situation zugestehen. Mit einem Literaturpreis auszeichnen muss man so einen Menschen jedoch nicht. Es sei denn, man ist selbst schon verroht, hat selbst bereits die Pfade der Entmenschlichung beschritten. Und dieser letzte Gedanke liegt fürwahr nahe. Nicht die Ukraine verteidigt »unsere Werte« an der Kriegsfront: Wir haben die Werte der Ukraine aufgegriffen und tun jetzt so, als seien es irgendwie währende Werte des Westens. Sind sie nicht! Es sind die Unwerte der Brutalisierung, ja des Krieges, die wir angenommen haben.
No-Ropa: Es gibt keine EUtopie
Hauke Ritz und ganz besonders Ulrike Guérot erleben gerade am eigenen Leib die Folgen der Entmenschlichung. Gemeinsam haben sie ein Buch geschrieben, das den Titel trägt »Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können«. Man muss nicht in allen Punkten die Meinung der beiden Autoren teilen, aber verdächtig ist das Buch nicht: Und zwar nicht im Sinne, hier irgendwie als fünfte Kolonne Moskaus wirken zu wollen. Es spricht sich für eine angemessene Betrachtung des Ukraine-Krieges aus – und ganz besonders geht es in dem Werk um die Europäische Union, die sich gerade in ein außenpolitisches Abenteuer stürzt, weil sie in ihrem Inneren eine ganze Reihe gescheiterter Manöver hinter sich hat und nun eine Ausflucht benötigt.
Aber alleine diese Gedanken reichen aus, um Ritz und Guérot zu Freiwild zu erklären. Sie erleben, wie rüde Kriegsgesellschaften mit Andersdenkenden umgehen. Es geht schlicht um deren Existenzvernichtung mit allen gerade noch halbwegs zulässigen Mitteln. Verbal überschreitet man aber jegliche Zulässigkeit längstens. Und ja, wir können es am Exempel, das man an beiden Autoren abstattet, einfach mal festhalten: Deutschland ist eine Kriegsgesellschaft. Es spricht, fühlt und handelt wie eine. Entmenschlicht wie eine. Verroht wie eine. Die Ukraine kämpft nicht unseren Krieg – wir kämpfen für die ukrainische Sache: Unter Einbeziehung aller Unwerte, die dort an der Front entstehen.
Beide Autoren erzählen in ihrem Buch die jüngere Geschichte der EU. Angefangen bei den »europäischen Träumen der 1990er Jahre« bis hin zum »Platzen der Träume in den 2000er Jahren« – und immer schwebt ein bisschen europäische Romantik mit, ganz dem Sinne nach: Europa könnte mehr – wenn es wollte. Und ganz sicher, wenn es sich aus diesem Krieg heraushielte oder noch besser: Für den Frieden werben würde. Letzteres ist zweifelsohne ein Ansatz. Aber nur, wenn man glaubt, dass die Europäische Union in irgendeiner Weise noch Wirkkraft ausstrahlt. Schon da scheitert die Vorstellung. Eine EUtopie kann heute keiner mehr vermitteln, die kontinentale Kohäsion ist spröde geworden, die Nationen winden sich, wollen eigene Wege gehen, erleben diesen politisch organisierten Kontinent als lebensfern und bürokratisch.
In No-Ropa liegt wohl die Zukunft: In einem Kontinent, der sich mehr und mehr zersplittern wird, in dem es vielleicht noch einen Staatenbund der restlich Verbliebenen gibt, der aber kaum die Kraft aufbringen kann, sich vom Joch der US-amerikanischen Außenpolitik zu befreien. Der Krieg in der Ukraine, in den sich diese EU täglich mehr als aktive Kriegspartei hineinziehen lässt, ist kein EU-Neubeginn, sondern das gezielte Ende: Genau deshalb freut man sich über dem großen Teich, dass die Entwicklung so ist, wie sie ist.
Kein Pulse tastbar, Europe!
Ein fulminant geschriebenes Kapitel in jenem Buch von Guérot und Ritz befasst sich mit dem, was Europa ist: Historisch, politisch, sozial und wirtschaftlich. Ein Kontinent, der aus seinem Erbe heraus weiß, was Krieg bedeutet, was Not verursacht. Europa wirkt in diesen Passagen wie eine Familie, wie Völker, die in einem Boot sitzen. In nostalgischen Stunden mag man das so sehen. Die Worte erinnern ein wenig an jene wohlfeilen Appelle, die vor einigen Jahren die Initiatoren von Pulse of Europe unter die Leute brachten. Im Zuge des drohenden Brexits fanden sich damals EU-Lobbyisten, die die EU verklärten, die es für einen unfassbaren und dreisten Vorgang hielten, dass ein Land ausscheren könnte. Woher die EU-Müdigkeit kam: Das war eher nicht Gegenstand der Betrachtung.
Der Verein Pulse of Europe existiert noch heute. Sein Sitz ist in Deutschland, genauer in Frankfurt am Main. In jenem Land also, dass ganz massiv an der Zerstörung der europäischen Idee mitgewirkt hat. Unter Helmut Kohl war Deutschland noch europäischer Visionär. In der Merkel-Ära hat das Land bewiesen, dass es Europa als Idee nur für zielführend hält, wenn Brüssel unter deutscher Kuratel steht. Im Zuge der Griechenland-Krise rettete Merkel jedenfalls nicht Europa, wie man damals immer gesagt bekam: Sie rettete die Geschäfte deutscher (Finanz-)Unternehmen.
Schon als die Straße von Pulse of Europe bevölkert wurde, gab es daher Kritik an dieser inhaltsleeren, romantisierenden Zurschaustellung des europäischen Gedankens. Die Friedensnobelpreisträgerin von 2012 – die EU also – hat Existenzvernichtung, Gesellschaftszerstörung und Verarmung in Kauf genommen: Sie war eine Union der Märkte, des Kapitals, aber keine der Menschen. Bis heute hat sich in dieser Hinsicht nichts verändert. Wie könnte eine solche Idee die Herzen der Menschen erreichen? Das EU-Engagement in der Ukraine ist demgemäß gar nicht die Zerstörung der EU, denn die lag eh in der Luft: Es beschleunigt den Niedergang nur.
Bis das endgültige Ende der Europäischen Union wirklich ansteht, werden wir dabei zusehen, wie dieses Europa ganz neue Werte als die alten Werte hochleben lässt – und die es nun gegen Russland zu verteidigen gilt. Werte wie Menschenverachtung, fehlende Meinungsfreiheit und gezielte Rufmordkampagnen gegen Menschen, die andere Ansichten pflegen. Diese letzten Jahre der EU werden von einer bedingungslosen Radikalität getragen sein, die die europäische Idee aber nicht retten können, sondern ganz im Gegenteil, die zur Beerdigung dieses einstigen Friedensprojektes beitragen werden. Europa wird irgendwo hinter Kiew begraben werden.
Bild: Das Schiff Europa sinkt
Autor: plusplus
Quellen: pixabay.com und publicdomainvectors.org
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